Des Pleitegeiers neue Kleider

von Redaktion — über |

Kreist ein Pleitegeier über einem Haus oder ganzen Ländern, dann haben die Bewohner beziehungsweise deren Regierungen kein Geld mehr. Sie sind „pleite“.

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So erging es auch einmal dem Michel, er war Bürgermeister einer schönen Landeshauptstadt. Über dieser flogen einige „Pleitegeier“. Stadt und umliegendem Land war es gemeinschaftlich gelungen, über Jahrzehnte brotbringendes Gewerbe und Handel zu verscheuchen. Übrig blieben staatsabhängiges Gewerbe und sehr viele Amtsstuben. Auch der örtliche Ballspielverein glich zuweilen mehr einem Karnevalsverein, aber das machte ihn landauf landab sympathisch.

Eines schönen Tages ersuchte das talentierte Pharmazeutenpärchen Ulrich und Oswalda um eine Audienz beim Michel. Die beiden Wunderheiler wussten von des Bürgermeisters Geld- und Geltungssorgen. Und so kam es, dass ihnen ihre Herkunft von "weit hinter der Ebsch Seit" keine Nachteile einbrachten. Die fahrenden Medizinhändler behaupteten, sie könnten ihm mit einer gänzlich neuartigen Tinktur aus seiner finanziellen Patsche helfen. Zudem könnten sie damit auch bösartige Fledermauserreger, eingeschleppt aus einem weit entfernten Kaiserreich, und sehr bald sogar die gemeine Schwindsucht besiegen.

Der Bürgermeister hörte aufmerksam zu. Er ließ sich Referenzen der beiden vorzeigen: Darunter war eine Referenz des weltbekannten Gönners Bill, welcher die beiden Pharmazeuten ebenfalls unterstützte. Besagter Bill hatte vor nicht allzu langer Zeit einem gewissen Didi im Keller einer Nobelherberge alchemistische Geheimnisse abgepresst. Diese Geheimnisse waren wichtig für die Arbeit der beiden Quacksalber. Damit konnten sie die gefährlichen Rezepturen an der körpereigenen Abwehr vorbeischmuggeln.

Die von Ulrich und Oswalda propagierten Tinkturen zeigten nämlich einige erstaunliche Besonderheiten auf: Man wisse nicht ob, wenn ja, wie genau und wann sie bei wem was bewirkten. Aber man könne garantieren, dass diese Mittelchen in jedem Fall die Pleitegeier von Stadt und Land fernhalten würden. Die medizinische Wirkung der Tinkturen sei für manche unsichtbar. Mitbürger, die dumm seien oder für ihr Amt nicht taugten, könnten die Wirkung nicht begreifen. Begeistert über diesen Zusatznutzen erteilte der Bürgermeister ihnen sogleich den Auftrag. Er verschaffte ihnen ein Grundstück an dem sich früher einmal eine Goldgrube befand und sollte letztlich damit sogar die Karrieretreppe eine Stufe hochfallen.

Die Quacksalber machten sich zum Schein an die Arbeit und mischten allerlei fremdartiges Material mit für das menschliche Auge unsichtbaren winzig kleinen Fetttröpfchen und weiteren giftigen Zusatzstoffen zusammen. Sie verlangten dafür immer mehr Gold und Silber von den Bürgern, den Zünften und Gilden, wodurch es an der ehemaligen Goldgrube erstmalig wieder zu sprudelnden Steuereinnahmen kam. Der Bürgermeister jubelte – zusammen mit der Handkäsgilde, welche immer hurtig zur Stelle war, wenn der Schultes etwas zum Verteilen hatte!

Das neuartige Serum wurde abgefüllt, ins ganze Land in tiefgekühlten Sänften verteilt und in mehreren Dosen wieder und wieder an die ahnungslose Bevölkerung von jung bis alt verabreicht.

Doch es kam, wie es kommen musste: Weder der Bürgermeister noch die zur Beobachtung der Wirksamkeit hinzugezogenen Medizinalräte konnten die vorgeblich wunderbare Wirkung der Zaubertinktur beobachten. Dies sich selbst einzugestehen hätte jedoch bedeutet, dass man selbst als „dumm“ oder „unfähig“ an den Pranger gestellt worden wäre. Deshalb lobten sie alle eine ganze Zeit lang noch die prachtvolle Wirkung des „Medikaments für Gesunde“.

Ein anstehender Festumzug mit des Michels’ Ranzengarde musste jedoch absagt werden. Der Bürgermeister wurde an den Hofe der Landesfürstin Mephista abberufen. Gerade noch rechtzeitig bevor Kontrolleure der Landesrentenanstalt Unpässlichkeiten in den Kassenbüchern der Pharmazeuten entdeckten. Diese hatten – wohl berauscht vom Erfolg der Tinktur – vergessen, große Teile ihrer überaus gut besoldeten Schar von pharmakologischen Hilfszauberern ordentlich bei den Knappschaften anzumelden. Allein der in der Rentenkasse entstandene Schaden wäre wohl einer der größten in der Geschichte des Landes gewesen, hätte man sich nicht noch irgendwie einigen können. Die beiden Pharmazeuten drohten damit, sich durch Verlagerung ihres Zauberladens ins Ausland auch noch aller sonstigen Tributpflichten zu entledigen. Auf diese waren Stadt und Land aber angewiesen. Der Fall sollte keinesfalls an die große Domglocke gehängt werden. Da die Kontrolleure um die zauberhaft unsichtbare Wirkung der Tinktur wussten, gab es auch bei diesem Thema niemanden dort, der auch nur irgendetwas Schlechtes sagen wollte.

Bis, ja bis ein kleines Narrenkind der Stadt auf dem Domplatz laut ausrief: „Die Arzneimittel unseres Ex-Bürgermeisters sind nicht nur wirkungslos, sondern sogar in vielen Fällen sehr schädlich“. Das Narrenkind begann von schweren Erkrankungen der Atmung, des Herzens, der Beine, Arme, Augen und sogar des Gehirns zu berichten. Es sollen sogar massenhaft kräftige und erfahrene Ritter bei Turnieren nach Verabreichung der Wundermedizin halb- oder mausetot umgefallen sein. Andere Bürger hörten die narrenkindliche Stimme der Unschuld und verbreiteten diese weiter, bis die ganze Bevölkerung „plötzlich und unerwartet“ mitsamt dem Ex-Bürgermeister einsah, dass man sich hatte betrügen lassen. Doch man beschloss mit der Aufarbeitung der Verfehlungen und Missetaten nicht allzu forsch voranzuschreiten. Zu tief saßen Scham und Angst. Die Dinge beim Namen zu nennen oder gar persönlich Verantwortung zu übernehmen, war nicht gerade ihre Stärke.

Doch zur Beseitigung der vielen Kranken, Krüppel und Toten im Gewerbe und auch bei den Einwohnern selbst – dafür waren die über Stadt und Land kreisenden Geier gerade gut genug.

Autor: Chris Barth