DIE FUNKTIONSLOGIK DER MACHT

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Macht ist ein Urphänomen gesellschaftlicher Organisation. Ihre Quellen sind in der Beschaffenheit des Menschen selbst zu suchen, in seinen natürlichen Motivationskräften. Eine Gesellschaft ohne Machtverhältnisse ist kaum denkbar.

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Wie man Macht auch genauer verstehen mag, sie ist in allen menschlichen Verhältnissen und Beziehungen als Möglichkeit oder als Realität präsent. Es wäre wenig sinnvoll, Macht als solche als moralisch gut oder schlecht zu kategorisieren. Sie kann moralisch oder rechtlich legitimiert und somit zivilisatorisch eingehegt sein, wie beispielsweise die Fürsorgepflicht der Eltern gegenüber ihren Kindern. Zugleich jedoch scheint der Macht etwas Bedrohliches innezuwohnen. Sie kann zum Objekt einer unersättlichen menschlichen Begierde werden. Schon in der Antike wurde die Machtgier mit der Gier des parasitären Mehrhabenwollens und der Ruhmsucht verbunden. Beide sind Formen der Selbstsucht, beide bedeuten, durch Macht persönliche Interessen zulasten anderer durchsetzen zu wollen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie im psychischen Gesamtgefüge des Menschen nicht durch natürliche Selbstbegrenzungsmechanismen reguliert sind.

Als Formen der Selbstsucht zielen diese Begierden darauf ab, sich selbst über andere stellen zu wollen und über alle Mittel zu verfügen, sich selbst „größer“ als die anderen erscheinen zu lassen. Machtgier zielt darauf ab, kontrollieren zu können, wie andere sich verhalten. Sie zielt darauf ab, kontrollieren zu können, wer Anerkennung, Lob oder Tadel erhält. Machtgier zielt sogar darauf ab, bestimmen zu können, was als Tatsache gilt und was als wahr zu gelten hat. Die hiermit verbundenen Bestrebungen beinhalten stets, den Anderen zu einem Werkzeug der Befriedigung eigener Begierden zu machen und ihn damit zu verdinglichen und zu instrumentalisieren. Auch bei den römischen Geschichtsschreibern und Politikern Sallust und Tacitus wurde die »Begierde, andere zu beherrschen, als eine der destruktivsten Kräfte in einer Gesellschaft angesehen. Sallust sah in dieser Begierde »die Ursache des Krieges«, und Tacitus betrachtete sie als »abscheulichste aller menschlichen Begierden«.

Das Wesen der Macht liegt in der Befähigung des Menschen, andere Menschen dem eigenen Willen unterwerfen zu können.

Macht ist also nach einer solchen Vorstellung stets parasitär, sie geht zu Lasten anderer, die nicht in gleicher Weise die Handlungen anderer ihrem Willen unterordnen können. Der Soziologe Max Weber bestimmte Macht so:

Macht bedeutet jede Chance, innerhalb der sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.

Macht bedeutet also für denjenigen, der ihr unterworfenen ist, stets einen Zwang. Wir leiden, wenn jemand uns körperlich verletzt, körperlicher oder psychischer Folter unterzieht oder gezielt unser Denkvermögen beeinträchtigt.

Als Grundrelation in menschlichen Beziehungsverhältnissen lässt sich Macht, wie in Max Webers Bestimmung, frei von moralischen Bewertungen behandeln. Für gesellschaftliche Analysen kann oftmals ein nüchterner Blick sehr hilfreich sein. Doch bleibt der Zwangscharakter der Macht stets im Hintergrund präsent, denn die Machtunterworfenen werden durch die Macht zum Werkzeug eines fremden Willens gemacht. Als Zwang betrachtet unterliegt Macht unweigerlich moralischen Bewertungen. Hierzu der Schweizer Kulturhistorikers Jacob Burckhardt:

»Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und unerfüllbar [...].«

Burckhardt sieht die psychologischen Triebkräfte, die der Macht zugrunde liegen - also das Streben nach Macht -, als eine Gier an, die unstillbar und grenzenlos ist. Macht ist stets in unser psychisches Gefüge eingebunden. Anders als andere elementare Bewegkräfte wie Hunger, Durst, Sexualität oder Neugier ist ein Machtbedürfnis nicht durch automatische innere Prozesse reguliert und begrenzt. Das Bedürfnis, den eigenen Willen gegen den eines anderen durchzusetzen, also Macht auszuüben, verstärkt sich durch eine Machtausübung geradezu selbst, denn das Gefühl, Macht über andere zu haben, geht in der Regel mit positiven Gefühlen einher und weckt den Wunsch, dieses Bedürfnis auch in Zukunft zu Lasten eines anderen befriedigen zu können. In dieser nahezu grenzenlosen Selbstverstärkung mit ihren zerstörerischen und selbstzerstörerischen Dynamiken liegt das destruktive Machtpotential. Diese Dynamik, dass ein Machtbedürfnis, wenn es erst einmal geweckt ist, sich selbst verstärkt, steht im Zentrum der Funktionslogik von Macht. Macht strebt nach mehr Macht, nach Ausweitung und Stabilisierung. Sie strebt danach, sich von allen Begrenzungen zu befreien. Alle weiteren Eigenschaften der Funktionslogik der Macht lassen sich aus dieser Dynamik ableiten oder zu ihr in Beziehung setzen.

Es liegt daher in der Funktionslogik von Macht, dass sie sich moralischen Kategorien, und damit Normen und Werten, grundsätzlich zu entziehen sucht. Sie versteht sich als Selbstzweck gegen das als bedrohlich deklarierte Andere, sei es gegen Anarchie und Chaos, sei es gegen jeden zum politischen Feind erklärten Anderen, der die jeweilige Macht in ihrer Existenz bedrohen könnte. Die Verteidigung von Macht und die Sicherung ihrer Stabilität werden aus ihrer eigenen Perspektive als ein Wert an sich angesehen. Ihre Verteidigung übersteigt somit jeden rationalen Zweck und jede Orientierung an irgendwelchen Werten und Normen. Macht neigt ihrem Wesen nach dazu, keine über ihr liegenden regulativen Maßstäbe einer Begrenzung mehr anzuerkennen. Zur Funktionslogik der Macht, insbesondere der staatlichen Macht, gehört es, dass sie diejenigen, die ihre Legitimität nicht anerkennen, zum existentiellen Feind erklären kann, den es zu bekämpfen, im äußersten Fall sogar zu vernichten gelte.

Zur Funktionslogik der Macht gehört ebenfalls, dass Macht danach strebt, stets ungeteilte Macht zu sein, weil »geteilte Macht sich wechselseitig zerstört«. Das Bedürfnis, errungene Macht zu stabilisieren und auszuweiten, sucht sich zu seiner Befriedigung Eigenschaften und Neigungen unseres Geistes zu bedienen, die sich für eine Stabilisierung von Macht nutzen lassen. Wir können unsere Aufmerksamkeit leichter auf Dinge und Vorgänge richten, die konkret erfasst werden können, als auf abstrakte Prozesse. Sobald wir die Zentren der Macht konkret erkennen können, vermögen wir einen Widerstand, eine Gegenmacht gegen sie auszubilden. Macht, die auf abstrakte Weise organisiert ist - sei es ökonomische, strukturelle oder ideologische Macht-, ist zumeist nicht als solche sinnlich fassbar. Dies ist eine zum Verständnis der Entwicklungsdynamik von Macht zentrale Regularität, die die Kulturgeschichte durchzieht. Der Sozialhistoriker Norbert Elias hat dies in seinen Studien im Detail aufgezeigt und stellt fest: »An eine Macht, die zwar vorhanden ist, aber nicht sichtbar im Auftreten des Machthabers selbst in Erscheinung tritt, glaubt das Volk nicht. Es muss sehen, um zu glauben.«

Ist Macht jedoch einer sinnlichen Erfassung entzogen und abstrakt organisiert, so ist sie für uns sehr viel schwerer zu erfassen und unterläuft dadurch unsere natürlichen Abwehrreaktionen. Dieses natürlichen Konkretismus unseres Weltverstehens bedient sich die Macht, indem sie zunehmend abstrakte Organisationsformen zu entwickeln sucht, die für die Machtunterworfenen unsichtbar sind. Macht will nicht gesehen werden, sie will nur in ihrer Wirksamkeit gespürt werden. Sie sucht sich durch Institutionalisierung und Bürokratisierung als Macht zu verbergen und sich zugleich zu verfestigen. (*) Denn sobald sie als Macht aufgedeckt wird, sieht sie sich mit Fragen ihrer Legitimität konfrontiert.

Macht möchte jedoch niemanden rechenschaftspflichtig sein. Wie Noam Chomsky anmerkte: »Einer der großen Vorteile, die Macht und Reichtum mit sich bringen, besteht darin, sich niemals für etwas entschuldigen zu müssen.« Um sich allen Fragen einer Legitimität und Rechenschaft zu entziehen, sucht Macht stets auch von der Sprache so Besitz zu ergreifen, dass sie als Macht nicht mehr erkennbar ist und ein Widerstand gegen sie im Wortsinne undenkbar wird. Diese Eigenschaften der Funktionslogik der Macht bieten daher die natürlichen Ansatzpunkte, Macht gesellschaftlich öffentlich sichtbar zu machen, sie einzuhegen und ihr destruktives Potential zu bändigen. Wenn wir also das destruktive Potenzial von Macht auf zivilisatorischem Weg einhegen wollen, müssen wir ihre Funktionslogik besser verstehen. Denn nur so lassen sich potentielle Ansatzpunkte finden, die destruktive Dynamik von Macht zu entschärfen. Wenn nun diese Funktionslogik der Macht ihre Wurzeln in der Beschaffenheit des Menschen hat, dann stellt sich die Frage, warum dem Menschen innere Mechanismen zu fehlen scheinen, die ein Bedürfnis nach Macht begrenzen.

Warum ist ein Machtbedürfnis, wenn es erst einmal geweckt ist, so unersättlich? Diese Frage scheint eine besondere Bedeutung für unser Selbstverständnis als Menschen zu haben. Denn eine solche Unersättlichkeit ist einzigartig in der Natur. Sie ist einzig dem Menschen gegeben, also humanspezifisch. Ihre Wurzeln sind folglich in Besonderheiten unserer Evolutionsgeschichte zu suchen.

Gastautor: Prof. Dr. Rainer Mausfeld