„Klingelingeling - wenn die Staatsgewalt morgens um sechs bei Ihnen vor der Tür steht“

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Über Hausdurchsuchungen, Online-Delikte und die schleichende Verschiebung rechtsstaatlicher Grenzen

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Morgens um sechs. Das Klingeln bohrt sich in die noch nicht wache Wohnung. Draußen stehen Beamte mit Durchsuchungsbeschluss, drinnen ein Beschuldigter, der im Bademantel überlegt, was eigentlich passiert ist: ein Jahr zuvor ein Posting auf X, ein Meme, ein Spruch, vielleicht ironisch, vielleicht polemisch. Keine Schlägerei, kein Einbruch, keine Bombendrohung. Ein Post. Und nun durchsuchen Fremde das intimste Umfeld – die Wohnung – wegen einer mutmaßlichen Äußerungsstraftat.

Diese Szene ist kein dystopischer Krimi. Sie ist Teil der neuen Normalität in mehreren liberalen Demokratien – mit jeweils eigenen Gesetzen, politischen Motiven und juristischen Begründungen. In diesem Essay geht es nicht um die Frage, ob Volksverhetzung, Gewaltaufrufe oder ernsthafte Drohungen strafbar sein sollen. Natürlich sollen sie das. Es geht um das Wie der Rechtsdurchsetzung, um Verhältnismäßigkeit, um Tatbestände, die immer weiter ausfransen, und um Ermittlungsmaßnahmen, die – statt streng begrenzte Ausnahmen zu sein – in den Alltag der Strafverfolgung wandern. Und es geht um die politische Kultur, die wir dabei riskieren.


Europa 2023/2025: Wenn digitale Rede zur polizeilichen Hauptsache wird

Zahlen aus dem Vereinigten Königreich illustrieren, wie stark der Staat in digitale Kommunikation eingreift: 2023 gab es laut The Times 12.183 Festnahmen wegen „offensiver“ Online-Nachrichten, im Schnitt mehr als 30 pro Tag, vor allem nach § 127 Communications Act 2003 und § 1 Malicious Communications Act 1988. Das ist ein Anstieg um fast 58 % seit 2019. (The Times)

Wer diese Zahlen liest, reibt sich die Augen. Natürlich unterscheidet das britische Recht zwischen Festnahme, Anklage und Verurteilung; die Zahl der Verurteilungen ist geringer. Aber genau das ist ja Teil des Problems: Erst kommt der polizeiliche Eingriff – die Freiheitsentziehung, das Verhör, die Beschlagnahme von Geräten – und oft erst viel später, wenn überhaupt, eine gerichtliche Klärung. Bis dahin haben Stigmatisierung, Kosten und Abschreckung bereits gewirkt.

Ein Blick nach Irland zeigt etwas anderes – aber ebenso aufschlussreich: Die umstrittene „Hate Speech“-Komponente eines großen Reformpakets wurde 2024 abgespalten bzw. nicht weiterverfolgt, während man Hate Crime als Deliktkategorie vorantrieb; 2024 passierte die Criminal Justice (Incitement to Violence or Hatred and Hate Offences) Bill das Dáil. (rte.ie) Frühere Fassungen und Debatten enthielten weitreichende Vorschläge, darunter auch den Besitz von Material, das „voraussichtlich“ Hass erzeuge – also eine Art Vorfeldkriminalisierung im Bereich Speicherung digitaler Inhalte. Bürger- und Juristenkritik sah darin ein Einfallstor für Hausdurchsuchungen und Gerätesichtung ohne klare Gewaltgefahr. (ADF International)

Auch wenn britische und irische Wege sich unterscheiden: Der Trend ist erkennbar. Digitale Rede wandert vom Rand in die Mitte strafprozessualer Aufmerksamkeit. Das Risikoprofil verschiebt sich: Je mehr Kommunikationsdelikte geschaffen oder ausgeweitet werden, desto häufiger werden Grundrechtseingriffe wie Durchsuchungen und Beschlagnahmen.


Deutschland: scharfe Instrumente, weiche Kriterien

Deutschland hat seine eigene Geschichte. Volksverhetzung (§ 130 StGB) und Kennzeichenverbot (§ 86a StGB) sind – historisch begründet – strenge Normen. Neueren Datums ist § 188 StGB („gegen Personen des politischen Lebens gerichtete Beleidigung…“), eingeführt 2021 im Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität. Der Paragraph privilegiert die Ehre von Politikern wegen ihrer Funktionsfähigkeit – mit teils deutlich erhöhten Strafrahmen. (Gesetze im Internet)

Die Fragen beginnen dort, wo Tatbestände abstrakt, Filterkriterien vage und Anwendung extensiv werden. Genau das war Thema eines aktuellen LTO-Interviews mit der Strafrechtsprofessorin Tatjana Hörnle vom Max-Planck-Institut: „Das Strafrecht ist keine moralische Superinstanz“, sagt sie – Hass zu bekämpfen sei legitim, aber nicht jedes negative Gefühl dürfe strafrechtlich sanktioniert werden. Entscheidend sei die Gefährlichkeit: Wo keine reale Gefahr für konkrete Personen absehbar sei, überschieße das Strafrecht. Auch das Rechtsgut „öffentlicher Friede“ sei als Schutzzweck zu vage und müsse eng ausgelegt werden, um die Meinungsfreiheit nicht auszuhöhlen. (LTO)

Besonders heikel: §§ 86/86a StGB. Hörnle plädiert dafür, nicht jeden NS-Bezug – vor allem kritische oder satirische – in die Strafbarkeit zu ziehen. Strafbar sei, wer Sympathie für aktive terroristische Vereinigungen bekunde oder Propaganda verbreite; Kritik an Gegenwartsphänomenen mit NS-Bezügen sollte nicht automatisch unter § 86a fallen. (LTO)

Diese juristische Zurückhaltung trifft auf eine Praxis, die gelegentlich anders aussieht.


Hausdurchsuchungen wegen Äußerungen – was sollen sie beweisen?

Was erhoffen sich Ermittler eigentlich von einer Hausdurchsuchung bei einem vermeintlichen Beleidiger oder bei einem satirischen Post? LTO hat das jüngst präzise aufgedröselt: Suchen würden Ermittler digitale Indizien für die Urheberschaft – eingeloggte Accounts, Apps, IP-Spuren; Ziel sei die Sicherstellung von Geräten. Verhältnismäßig sei eine Durchsuchung nur, wenn der Erkenntnisgewinn die Schwere des Eingriffs rechtfertigt – und wenn es kein milderes Mittel gibt, etwa zuvor den Beschuldigten zu befragen oder Einsichtnahme in Profile zu verlangen. (LTO)

Genau daran entzündete sich die Debatte im Fall des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz: Die Berliner Staatsanwaltschaft ermittelte 2024/2025 wegen eines X-Posts mit Bezug zu einem NS-Slogan; angeordnet wurde eine Durchsuchung mit Abwendungsbefugnis – also der Möglichkeit, den Vollzug zu vermeiden, wenn freiwillig Beweise gezeigt bzw. herausgegeben werden. Bolz machte davon Gebrauch; die Beamten betraten die Wohnung nicht. Einige Kommentatoren sehen diese Vorgehensweise im Einklang mit der Rechtsprechung. Andere betonen deren Zweischneidigkeit: Die angedrohte Durchsuchung muss ihrerseits rechtmäßig sein; die Abwendungsbefugnis ist ein milderes Mittel, aber kein Freibrief für unverhältnismäßige Drohkulissen. (LTO)

Proportionalität bleibt der Kern – und deutsche Gerichte ziehen Grenzen: Das LG Hamburg erklärte 2022 die Wohnungsdurchsuchung in der „Pimmelgate“-Affäre (Beleidigung des Innensenators Andy Grote) für rechtswidrig – unverhältnismäßig für eine Beleidigung von geringer Schwere. (LTO)

Gleichzeitig zeigt der „Schwachkopf“-Fall um die Beleidigung von Robert Habeck, wie leicht Ermittlungen eskalieren: Hausdurchsuchung, Beschlagnahme, Folgeverfahren. In einem späteren Verfahren spielten andere Tatvorwürfe eine Rolle; die rechtspolitische Debatte blieb: Lässt sich so noch von „mildestem Mittel“ sprechen? (LTO)


Wenn Normen wandern: Von Gewaltprävention zur Gefühlsordnung

Warum tendiert das System in Richtung Ausweitung? Eine Antwort liefert der institutionelle Alltag: Politischer Druck („Wir müssen etwas tun!“), mediale Empörung, die Logik der Prävention („lieber zu früh als zu spät“) und die Bequemlichkeit digitaler Beweise. Eine weitere Antwort liegt in den Tatbeständen, die Gefühlstatbestände und Gefährdungsdelikte überlagern:

Volksverhetzung als echtes Gefährdungsdelikt.
Bei § 130 StGB darf es nicht um gekränkte Gefühle gehen, sondern um konkrete Gefahren für reale Personen oder Gruppen. Strafbar ist, was plausibel geeignet ist, Übergriffe zu befördern oder den Schutz Betroffener real zu unterminieren. Darum gehört die Norm eng ausgelegt: Keine pauschale Kriminalisierung unsympathischer oder scharfer Meinungen, sondern eine nüchterne Prüfung, ob und wie eine Äußerung tatsächlich Gewaltbereitschaft anheizen kann.

Beleidigung (§ 185 StGB) präzisieren.
Der heutige Wortlaut („wer einen anderen beleidigt“) ist zu weit: Er reicht von ruppiger Polemik bis zur massiven Schmähung. Ziel künftiger Reformen sollte sein, die Schwelle klar anzuheben—etwa durch eine Formulierung wie „wer einen anderen erheblich erniedrigt“. So bleibt Alltagsrauhigkeit straflos, während wirklich entwürdigende Angriffe weiterverfolgt werden können.

§ 188 StGB (Beleidigung von Politikern) auf den Prüfstand.
Die Vorschrift schützt Amtsträger stärker mit Verweis auf die Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses. Kritiker sehen darin eine Ungleichbehandlung gegenüber Bürgern und warnen vor einem Chilling Effect: Politische Satire, zugespitzte Oppositionskritik oder harte Rhetorik könnten aus Angst vor überzogener Strafandrohung verstummen. Wer den demokratischen Streitraum erhalten will, muss § 188 eng führen—und immer fragen, ob wirklich die Funktionsfähigkeit tangiert ist, nicht nur die Eitelkeit.

§ 86a StGB (Kennzeichen) trennscharf anwenden.
Die Tabu-Norm mag historisch verständlich sein, wird in der Praxis aber überdehnt. Satire, kritische Distanz oder Kontextentlarvung sind nicht dasselbe wie Propaganda oder Wiederbelebung verfassungsfeindlicher Ideologien. Deshalb gilt: Kontext first. Nicht jede Anspielung oder verfremdete Anknüpfung an NS-Symbole erfüllt bereits den Schutzzweck der Norm. Strafbar ist, was erkennbar propagandistisch wirkt oder Solidarisierung mit solchen Organisationen bezweckt—nicht der kritische Kommentar dazu.

So entstehen Grauzonen, in denen Ermittler und Richter – oft unter Zeitdruck – Weichen stellen. Und in denen sich die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit realiter verschieben: Was früher als äußerstes Mittel galt, ist heute Arbeitspraxis. Das Instrument Hausdurchsuchung wird – auch wenn es juristisch sauber hergeleitet wird – symbolisch: „Wir meinen es ernst.“ Genau das aber ist nicht sein Zweck. Ermittlungsmaßnahmen sind kein pädagogisches Signal, sondern Grundrechtseingriffe, die einer strengen Zweck-Mittel-Prüfung unterliegen.


Die neue Macht der Ermittlung: Abschreckung durch Prozess

Im Strafrecht nennt man es manchmal zynisch „the Process is the Punishment“: Der Prozess – Durchsuchung, Vorladung, Datenauswertung, Kosten, Öffentlichkeit – ist bereits Strafe, selbst wenn am Ende keine Verurteilung steht.

Die britischen Zahlen zeigen das im Großen: Über 12.000 Festnahmen im Jahre 2023 – ca. viermal mehr als in der bevölkerungsreichen russischen Föderation. Kritik kommt von Bürgerrechtsorganisationen: vage Tatbestände, Überpolicing des Netzes, Ressourcenbindung zulasten klassischer Delikte. (The Times)

Die deutsche Debatte zeigt es im Kleinen: Hausdurchsuchungen in Bagatellfällen – und im Nachhinein Gerichtsbescheide, die die Maßnahmen kassieren (LG Hamburg). Zwischen Staat und Bürger wächst etwas Unsichtbares: Misstrauen. Wer erlebt hat, wie leicht ein satirischer Post eine Morgendurchsuchung triggert, schreibt beim nächsten Mal nicht mehr – oder anonym. So funktioniert Abschreckung nicht nur gegenüber Kriminellen, sondern gegenüber allen.


Gewaltenteilung in der Bewährungsprobe

Die Legislative schafft neue Tatbestände und erhöht Strafrahmen, oft im Namen des Kampfes gegen Hass. Die Exekutive (Polizei, Staatsanwaltschaften) nutzt die neuen Instrumente – mal umsichtig, mal übergriffig. Die Judikative korrigiert nachlaufend – aber nicht immer, und nicht sofort. Gewaltenteilung funktioniert – aber langsam.

Langsamkeit ist im Rechtsstaat kein Makel, sondern manchmal Tugend. Schnelle Härte gehört in die Gefahrenabwehr, nicht in den vorauseilenden Strafrechtseinsatz gegen Ambivalenzen. Wer Satire oder schiefe Metaphern mit Haftschwelle bedroht, produziert keine stabilere Öffentlichkeit, sondern eine ängstlichere.

Gerade deshalb wiegt das Signal einzelner Entscheidungen so schwer: Das LG Hamburg hat 2022 eine rote Linie gezogen und eine Durchsuchung wegen einfacher Beleidigung als unverhältnismäßig verworfen. (LTO) Zugleich zeigt der BVerfG-Beschluss zu Kanzleidurchsuchungen, dass besondere Schranken gelten, wenn Berufsgeheimnisse im Spiel sind – und dass die Verhältnismäßigkeitsprüfung ernst zu nehmen ist (auch wenn der konkrete Fall prozessual scheiterte, hat Karlsruhe die Anforderungen klar betont). (Bundesverfassungsgericht)

Das Problem: Ein korrigierendes Urteil zwei Jahre später lindert nicht den sofortigen Abschreckungseffekt der Morgendurchsuchung. Präzedenzschutz entsteht ex post, Schaden entsteht sofort.


Sprache, Tabu und die offene Gesellschaft

Wenn es um NS-Codes geht, gilt ein striktes Tabu“, heißt es eingangs im LTO-Interview mit Hörnle. Tabus können in liberalen Gesellschaften Schutzzonen markieren – gegen Verharmlosung, gegen Wiederkehr totalitärer Symbole. Aber Tabus sind kein Gesetzestext. Das Strafrecht braucht klare, enge, überprüfbare Kriterien. Vage Tatbestände („Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens“) taugen schlecht als Messlatte; sie verleiten dazu, Gefühle zu schützen, statt konkrete Gefahren abzuwehren. (LTO)

Satire lebt vom Grenzgang. Ironie lebt vom Kontext. Wenn Ermittlungsakteure Kontext tilgen, um Symbolik zu isolieren, kippt der Sinn. Ein ironischer Post kann semantisch ähnlich aussehen wie Propaganda – aber er ist es nicht. Für diese Differenz ist das Strafrecht schlecht gebaut; hier braucht es Zurückhaltung.


Der schleichende Pfad – wie demokratische Kultur erodiert

Totalitäre Systeme entstehen selten „plötzlich und unerwartet“. Sie wachsen entlang belohnter Überreaktionen und ungeahndeter Grenzverschiebungen:

  1. Problemdiagnose: „Hass“ im Netz, „Hetze“, „Fake News“.
  2. Symbolpolitik: Neue Tatbestände, höhere Strafrahmen, härtere Worte.
  3. Prozessuale Normalisierung: Hausdurchsuchung wird „Standardmaßnahme“ – auch zur Sicherung von Indizien, die anders zu bekommen wären.
  4. Chilling Effect: Bürger werden vorsichtiger – nicht nur die Böswilligen.
  5. Gerichtliche Korrektur: spät, punktuell, nicht heilend.

So hebt niemand die Gewaltenteilung „am Stück“ auf. Sie verblasst im Alltagsbetrieb. Ein Anwalt, eine Satirikerin, ein Rentner, ein Blogger: Sie alle erleben punktuell, dass staatliche Macht nicht nur strafen kann, sondern schon mit dem Prozess beeindruckt – Signalwirkung inklusive. Durchsuche einen, erziehe viele?


Ein anderes Strafrecht ist möglich – und nötig

Was wäre zu tun, ohne gleich naive „Narrenfreiheit“ zu fordern?

  • Tatbestände enger fassen. Der Gesetzgeber sollte die Schwellen bei Äußerungsdelikten klarer definieren. Bei § 185 StGB braucht es eine engere Formulierung, die nur gravierende Herabsetzungen erfasst – etwa nach dem Maßstab einer „erheblichen Erniedrigung“ statt bloßer Missachtung oder Unhöflichkeit. Für § 86a StGB sind präzisere Kriterien nötig, die zwischen Propaganda und kritischer, satirischer oder distanzierender Verwendung klar unterscheiden. Das schützt die Meinungsfreiheit, ohne die eigentlichen Schutzgüter preiszugeben.
  • Verhältnismäßigkeit schärfen. Wohnungsdurchsuchungen dürfen bei Äußerungsdelikten nur angeordnet werden, wenn eine konkrete Gefahr besteht oder relevante Beweise anders nicht erreichbar sind. Sie sind kein Standardwerkzeug und keine Drohkulisse, sondern ein äußerstes Mittel. Wo Identität und Urheberschaft auf milderem Weg geklärt werden können, ist der Griff zur Klingel um sechs Uhr rechtsstaatlich zu teuer.
  • Abwendungsbefugnis sinnvoll nutzen – nicht als Feigenblatt. Die Abwendungsbefugnis kann ein milderes Mittel sein, weil der Betroffene die Maßnahme durch freiwillige Herausgabe oder Einsichtnahme entbehrlich macht. Sie setzt aber voraus, dass die hypothetische Durchsuchung selbst rechtmäßig wäre. Unverhältnismäßige Eingriffe werden nicht dadurch legitim, dass man ihre Vollziehung „zur Not“ vermeidet.
  • Transparenz über Zahlen und Outcomes herstellen. Der Staat muss ehrliche Bilanzen vorlegen: Wie viele Festnahmen, wie viele Anklagen, wie viele Verurteilungen? Welcher konkrete Nutzen für Gefahrenabwehr und Opferschutz ergibt sich daraus? Stehen am Ende kaum Verurteilungen, ist die Eingriffsschwelle offensichtlich zu niedrig und gehört nachjustiert.
  • Ausbildungspraxis verbessern. Polizei und Staatsanwaltschaften brauchen Kontextkompetenz für Satire, Ironie und politischen Streit. Meinungsfreiheit ist die Grundregel, nicht die Ausnahme. Fortbildungen sollten den Blick für konkrete Gefahrenlagen schärfen und zugleich die milden Mittel des Verfahrens konsequent priorisieren.
  • Politische Hygiene wahren. Strafrecht ist ultima ratio, kein Instrument zur moralischen Weltverbesserung oder Symbolpolitik. Gefordert ist ein Rechtsgüterdenken, das harte Eingriffe auf Fälle echter Gefährdung konzentriert und alles andere politischer Debatte, Kritik und Gegenrede überlässt. Nur so bleibt das Strafrecht wirksam – und der öffentliche Raum frei.

Die offene Gesellschaft und ihre morgendlichen Routinen

Die offenste, robusteste Gesellschaft ist nicht die, die am frühesten klingelt, sondern die, die am spätesten – und nur dann, wenn es wirklich sein MUSS. Es ist nicht kleinlich, die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG) gegenüber einem Tweet zu verteidigen. Es ist großzügig – gegenüber einer Freiheit, die immer zuerst dort stirbt, wo man Sprache und Kontext gleichsetzt. Harte Kante ist richtig gegen Gewalt, terroristische Organisationen, gezielte Einschüchterung. Harte Kante gegen Ambivalenz und Satire ist das Falsche im falschen Moment.

Die eigentliche Bewährungsprobe lautet: Trauen wir der Freiheit zu, mit Zumutungen umzugehen? Trauen wir Richtern zu, mit nüchterner Plausibilitätsprüfung Gefährdung von Geschmack zu trennen? Trauen wir Polizisten und Staatsanwälten zu, mildere Mittel zu wählen – und auf das Klingeln um sechs zu verzichten, wenn es nicht wirklich unabweisbar ist?


Was auf dem Spiel steht

Eine freiheitlich-demokratische Grundordnung lebt nicht vom Eifer, sondern von Maß. Maß in der Tatbestandssprache. Maß in der Ermittlung. Maß im richterlichen Korrektiv. Wer die Grenze zur Moralisierung des Strafrechts überschreitet, weckt die falschen Instinkte: Konformität statt Widerspruch, Selbstzensur statt Bürgersinn.

Und ja: Totalitarismus kommt selten mit Stiefeln, häufiger mit Formularen und Beschlüssen. Er kommt als „nur eine Maßnahme“, als „nur eine Hausdurchsuchung“, als „nur eine Festnahme“. Er kommt, wenn Tabus statt Argumente regieren, wenn Gefühle statt Gefahren strafbar werden, wenn Ironie als Tatmittel gilt.

Die gute Nachricht: Der Rechtsstaat besitzt die Werkzeuge, sich selbst zu korrigieren – engeres Auslegen, bessere Gesetze, klare Leitplanken für die Exekutive. Er braucht dazu aber Öffentlichkeit. Debatte. Widerspruch. Juristische Nüchternheit statt moralischer Überhitzung.


Das leiseste Geräusch der Freiheit

Vielleicht ist es tatsächlich das Klingeln am Morgen, das die Freiheit am deutlichsten beschreibt: Wird es leichtfertig? Oder bleibt es selten – begründet, eng, kontrolliert?

Die Antwort liegt nicht in einer „Anything goes“-Rede, sondern in der Rückkehr zur Strafrechtsnüchternheit. Volksverhetzung, Terrorpropaganda, konkrete Gewaltgefahr – ja. Ironie, Satire, missglückte Metaphern, Warnung vor Wiederholung – nein! Und bitte niemals mit Rammbock!

Denn eine Demokratie verliert nicht an den Rändern, wenn ein Komiker übers Ziel hinausschießt. Sie verliert in der Mitte, wenn Recht zu Moral wird und Ermittlung zur Erziehung.


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Quellen (Auswahl)

  • Tatjana Hörnle im LTO-Interview: „Das Strafrecht ist keine moralische Superinstanz“ – Einordnung zu § 130, § 86a, § 140, § 185/188 StGB und dem „öffentlichen Frieden“. (LTO)
  • LTO-Analyse zu Hausdurchsuchungen bei Äußerungsdelikten, Abwendungsbefugnis, Beweiszwecken und Verhältnismäßigkeit. (LTO)
  • LTO zur Durchsuchung im Fall Norbert Bolz (Abwendungsbefugnis, rechtlicher Rahmen). (LTO)
  • LG Hamburg (2022): Durchsuchung in der „Pimmelgate“-Affäre rechtswidrig (Unverhältnismäßigkeit). (LTO)
  • BVerfG (2025): Strenge Maßstäbe bei Kanzleidurchsuchungen (Prozessualer Ausgang; Leitlinien bekräftigt). (Bundesverfassungsgericht)
  • UK: 12.183 Festnahmen 2023 für „offensive“ Online-Nachrichten; Trend, Kritik, Vergleichszahlen. (The Times)
  • Irland: Hate Crime Bill 2024 beschlossen; „Hate Speech“-Element zuvor zurückgestellt; Debatten über Besitzdelikte für potentiell hetzendes Material. (rte.ie)
  • § 188 StGB – Gesetzestext und Parlamentsdebatte zur Kontroverse. (Gesetze im Internet)