Über das Canceln, das Kontextualisieren und die seltsame Allianz von Aufklärung und Ausgrenzung

Eine essayistische Leserzuschrift
Man kann heutzutage nicht mehr einfach nur lesen oder schreiben, ohne dass jemand kommt und fragt, ob das denn „kontextualisiert“ sei. Das klingt zunächst harmlos, wie ein akademisches Feigenblatt. Tatsächlich aber handelt es sich um eine jener unsichtbaren Techniken moderner Zensur, die nicht von grauen Staatsapparaten ausgeht, sondern von Menschen, die sich selbst für besonders aufgeklärt, liberal und pluralistisch halten.
Das allein ist noch nicht das Erschreckende. Erschreckend wird es erst, wenn diese Leute glauben, dass Meinungsvielfalt darin bestehe, abweichende Meinungen auszuschließen.
Was treibt Ausgrenzer an?
Die Menschen, die andere aus dem öffentlichen Raum drängen, tun das selten aus böser Absicht. Vielmehr scheint es sich um eine Mischung aus Angst, Schuldverdrängung und automatisiertem Konformismus zu handeln. Wer etwa während der Corona-Jahre in Inbrunst Maßnahmen verteidigte, die sich später als fragwürdig oder komplett erlogen erwiesen, will sich ungern eingestehen, Teil einer kollektiven Täuschung gewesen zu sein. Der innere Frieden wird dann dadurch gesichert, dass man den Zweifler diffamiert. Wer infrage stellt, wird zur Gefahr.
Der Widerspruch: Gerade diejenigen, die sich auf „Demokratie“ und „Offenheit“ berufen, zeigen die geringste Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen. Der Zweifelnde wird zum Ketzer.
Staatsnahe NGOs wie die Amadeu Antonio Stiftung sind Vorreiter der Cancel-Unkultur
Die Amadeu Antonio Stiftung – eine der lautesten Stimmen im Chor des moralischen Korrektivs – fungiert nicht mehr nur als Beobachterin von Hass und Hetze, sondern zunehmend als moralische Instanz, die entscheidet, wer überhaupt noch sprechen darf. Mit wohlklingenden Begriffen wie „Verantwortung von Kulturorten“ wird eine Praxis etabliert, bei der Veranstalter im vorauseilenden Gehorsam Gäste wieder ausladen, sobald jemand „Irritation“ anmeldet.
Der Schriftsteller Michael Sailer war ein solches Ziel. Weil jemand „besorgt“ war, seine Lesung könne „Narrative verstärken, die an Verschwörungserzählungen andocken“, wurde sein Auftritt in Mannheim zur Debatte gestellt – mit dem Hinweis, er solle nur mit „Kontextualisierung“ sprechen dürfen. Was genau das heißen soll, bleibt vage. Doch die Richtung ist klar: Kritik am Mainstream gilt als gefährlich, selbst dann, wenn sie satirisch oder literarisch verpackt ist.
Was macht das mit den Ausgegrenzten?
Wer ausgeladen, stigmatisiert oder öffentlich unter Verdacht gestellt wird, verliert nicht nur berufliche Chancen. Er verliert Vertrauen – in das Milieu, das sich selbst für aufgeklärt hält.
Sailer, ein Autor, der für absurde Literatur ebenso bekannt ist wie für scharfe Kommentare zur Zeit, nimmt die Exklusion erstaunlich gelassen. Nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Prinzip. Er will kein Opfer sein. „Ich schreibe gegen Dummheit und Lüge“, sagt er, „und genau das wird mir nun zum Vorwurf gemacht.“
Er hat recht: Wer Institutionen kritisiert, gilt heute nicht als engagierter Demokrat, sondern als „Delegitimierer“. Wer Medien widerspricht, wird der „verkürzten Medienkritik“ bezichtigt. Eine ironische Verkehrung: Die Demokratie wird geschützt, indem man ihren Kern – die Debatte – unterbindet.
Warum Sailer sich nicht als Opfer sieht
Opferhaltung ist heute ein gefragtes Kapital. Doch Sailer verweigert sich dieser Währung. Stattdessen wählt er den Weg der Aufklärung. Er analysiert die ihm vorgeworfenen „Frames“, zerlegt Begriffe wie „Elitenerzählung“ oder „Desinformation“ und zeigt, wie schwammig und manipulierbar sie sind. Wer heute als Antisemit gilt, muss nichts gesagt haben – es reicht, dass eine KI das „Chiffren“ erkannt haben will.
Er antwortet mit Sprache, nicht mit Klage. Mit Ironie, nicht mit Jammer. Und mit klarem Denken gegen das trübe Wasser der ideologischen Schlagwörter.
Die Lektion aus dem Fall Sailer
Die Geschichte ist exemplarisch. Sie zeigt, wie leicht sich eine Gesellschaft – auch ohne offiziellen Zensor – in ein Netz aus selbst erzeugter Sprachkontrolle verstrickt. Besonders perfide: Die Zensur tarnt sich als Schutz vor Zensur.
Der Ruf nach Kontextualisierung wird zur intellektuellen Zwangsjacke. „Du darfst sagen, was du willst – aber nur, wenn wir vorher sagen dürfen, was du damit meinst.“
Sailer nennt das: Kontextualisierung von oben. Und er vergleicht sie mit dem nationalsozialistischen Umgang mit Literatur – als jüdisch, undeutsch, systemzersetzend etikettiert und dadurch diskreditiert. Der Unterschied: Damals war der Zensor sichtbar. Heute tarnt er sich als Demokrat.
Wie funktioniert moderne Zensur ohne Zensor?
Indem sie ins Soziale ausgelagert wird. Die Empörung übernimmt das, was früher der Erlass tat. Veranstalter, Intendanten, Verlage – alle beugen sich vorsorglich der Möglichkeit eines Shitstorms.
Es ist das Phänomen des „Trusted Flaggers“, aber ohne Kasten. Der Filter ist internalisiert. Die Menschen sind freiwillige Zensoren geworden – im Namen von Vielfalt, die sich auf Einfalt beschränkt.
Was bedeutet „Kontextualisierung“ heute?
Früher war Kontext ein Mittel zur Einordnung. Heute ist es ein Mittel zur Disqualifikation. Wer kontextualisiert wird, wird markiert. Als verdächtig, als toxisch, als „anschlussfähig an…“. An was? An das, was als Tabu gilt – auch wenn es nie konkret benannt wird.
Sailer nennt das die „deutsche Tradition des Etikettierens“ – eine Methode, die schon in der Weimarer und NS-Zeit gängig war: Man ordnet Menschen ein, bevor man ihnen zuhört. Dann kann man das Zuhören nämlich gleich ganz lassen.
Die Macht der Begriffe: Frames und Narrative
Was sind „Frames“? Sprachliche Rahmen, die bestimmen, wie ein Thema gesehen werden soll. Wer über „Verschwörungsideologien“ spricht, hat schon entschieden, dass Kritik irrational ist. Wer von „Delegitimierung“ redet, unterstellt Absicht. Wer „Elitenerzählung“ hört, denkt an Populismus. So entsteht ein Regelwerk des Sagbaren, dessen Grenzen nicht juristisch, sondern diskursiv gezogen werden.
Was sagt die Geschichte über uns?
Wir leben in einer Zeit, in der das kollektive Gedächtnis schwächelt. Sailer erinnert an die „Särge von Bergamo“, das ikonische Bild der Corona-Panik. Inzwischen längst entlarvt als vollkommen irreführend. Doch es wird brav weiter zitiert – von denen, die meinen, auf der Seite der Wahrheit zu stehen.
Das ist sein eigentlicher Vorwurf: Nicht der Irrtum, sondern die Weigerung, ihn zu erkennen. Dummheit und Lüge, sagt Sailer, sind keine individuellen Defizite mehr – sie sind Symbiose geworden. Und sie sind gefährlich.
Fazit: Die Freiheit stirbt nicht mit einem Schlag – sondern im Nebensatz
Wer heute zur Vorsicht mahnt, meint Kontrolle. Wer Offenheit fordert, meint Abgrenzung. Und wer kritisiert, muss mit einer KI-gesteuerten Etikettierung rechnen, die „Chiffren“ erkennt, wo nur Ironie war.
Der Fall Sailer zeigt nicht, dass ein einzelner Autor gecancelt wurde. Sondern dass eine Kultur ins Rutschen geraten ist – weg von der Debatte, hin zur Bewertung. Wer davon profitiert, ist klar. Wer dabei verliert, ebenso: Die offene Gesellschaft selbst.
Anm.d.Red.: Sie haben bis hier durchgehalten? Dann schauen Sie sich vielleicht jetzt noch das Video von Michael Sailer höchst selbst an. Damit die "Selbstkontextualisierung" ordentlich sitzt: Youtube