Die Würde des Menschen ist unantastbar. So steht es in unserem Grundgesetz an allererster Stelle, im Artikel 1. Der Staat wird darin verpflichtet, sie zu achten und zu schützen. Auch das deutsche Volk – Sie und ich, jeder einzelne Bürger – bekennt sich hier zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt – weise Worte.
Die staatliche Gewalt, die Gesetzgebung, jede Verordnung sowie die Rechtsprechung müssen im Einklang mit diesem Passus und allen anderen Grundrechten stehen – das ist nicht immer so. Die Würde des Menschen, der Artikel 1, steht unter dem Schutz der sogenannten Ewigkeitsgarantie, er darf nie geändert werden – den Göttern sei Dank.
Was Würde bedeutet
Würde ist das Bewusstsein unserer Individualität – mehr noch: unseres Daseins. Sie schließt die Vorstellung mit ein, wie wir unser Leben gestalten, körperlich, geistig und seelisch. Sie ist das Recht auf unsere Unversehrtheit und eigene Entwicklung. Jeder kann das fühlen, ohne es in Worte zu fassen. Unser Grundgesetz sagt sogar: Sie ist unantastbar. Damit ist gemeint: nicht schmälern, nicht beeinträchtigen, nicht verletzen – die Finger davon lassen, sie hochhalten. Eine sehr gute Idee.
Verletzungen in der Pandemie
Während der Corona-Pandemie kam es zu unglaublichen Verwerfungen. Viele Grundrechte wurden einem angeblich alternativlosen Gesundheitsschutz geopfert – im Besonderen die Würde der Menschen.
Den achtundachtzigsten Geburtstag meiner Mutter „feierten“ wir in einem Pflegeheim in Bad Tölz – unter Hygienemaßnahmen. Ein vertrautes Zusammensein im eigenen Zimmer: nicht erlaubt. Meine Tochter und ich wurden in eine zugige, kalte Aula mit weit geöffneten Fenstern geleitet, in die meine Mutter im Rollstuhl gebracht wurde. Mittig ein Tisch, drei Stühle, zwei Lehnen beschriftet – „Angehörige“. Eine herzliche Umarmung zur Begrüßung: nicht erlaubt. Kaffee, Kuchen: nicht erlaubt. Masken: obligatorisch.
In einigen Metern Abstand stand eine Heimmitarbeiterin und wich nicht von unserer Seite – die Bewachung. Meine Mutter verstand gar nicht, was vor sich ging. Aufgrund ihrer Demenz war dies einfach nicht möglich. Sie zog sich immer wieder ihre Maske vom Gesicht. Die Bewacherin stülpte sie ihr wieder über. Es war zum Erbarmen.
Antworten der Verantwortungsträger
Heute, fünf Jahre nach diesen Vorkommnissen im Sommer 2020, lasse ich die Antworten aller Verantwortlichen auf meine umfangreichen schriftlichen sowie telefonischen Anfragen und Beschwerden Revue passieren. Eine meiner Fragen war: „Was bedeutet für Sie unantastbar?“
Die Heimleitung: „Auf die Frage der Menschenwürde kann ich nicht antworten, dafür habe ich keine entsprechende Ausbildung.“
Der Leiter des Gesundheitsamtes Bad Tölz – erst nachdem ich das Landratsamt einschaltete – in einer Mail an die Leitung des Pflegeheims: „Bitte für mich mit beantworten.“
Melanie Huml, die bayerische Gesundheitsministerin zu dieser Zeit: keine Antwort.
Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident: keine Antwort.
Allerdings wurde ich an das Fachreferat unter Ministerialrätin Swantje Reiserer des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege verwiesen, welches in seinem Namen antwortete:
„Ob die konkrete Situation Ihrer Mutter menschenunwürdig ist, können wir leider nicht beurteilen, da wir die konkreten Umstände vor Ort nicht kennen.“
Mein detaillierter, zweiseitiger Bericht lag ihnen vor. Nachfragen waren nicht von Interesse.
Politik und der Umgang mit Grundrechten
Unsere Grundrechte sind zu einem Selbstbedienungsladen für Politiker geworden. Mit welcher Selbstverständlichkeit nicht nur der bayerische Ministerpräsident und seine Regierung Grundrechte nehmen, lockern, wiederholt einschränken oder großzügig gewähren, ist schier unglaublich.
Markus Söder befreite am 1. März 2021 die Friseursalons aus dem Lockdown und gab uns allen damit großzügig Würde zurück (Pressekonferenz vom 11. Februar 2021):
„Dann haben wir uns entschieden, ab 1. März die Friseure zu öffnen, unter entsprechenden Hygienemaßnahmen, mit entsprechendem Maskenschutz, das ist selbstverständlich. Warum sind Friseure jetzt so wichtig, das kann jeder selber beurteilen für sich, aber was ich glaube, ich sagen möchte – mal unabhängig davon, dass es ein großartiges Handwerk ist und sinnvoll ist – aber es hat etwas mit Hygiene zu tun für viele, auch grad Ältere, die es brauchen, die sich schwerer tun, und es hat ein bisschen was, dazu stehe ich, mit Würde zu tun. Mit Würde, selbst in so schwierigen Zeiten, wie man damit umgeht.“
Was soll man dazu noch sagen?
Gastautor: Hans Deimel
Anm.d.Red.: Lesen Sie zu den "Vorkommnissen" in Pflegeinrichtungen "damals" und auch noch "heute" hierzu diesen Beitrag noch: https://ktrm.short.gy/5j0a