DER MENSCH IST IMMER ZU WAHNSINN FÄHIG

von Redaktion — über |

Ein Interview mit Dr. Daniele Ganser

Daniele_Ganser_Foto_von_Rene_Rickli_4.jpg

Der Schweizer Publizist und Historiker Dr. Daniele Ganser hält im Rahmen seiner Deutschlandtour unter dem Motto „WELTFRIEDEN“ vor ausverkauften Häusern Vorträge. Seine Sicht zu den aktuellen Themen in Bezug auf das Weltgeschehen erfahren Sie hier im KLARTEXT-Interview.

KLARTEXT: Im Bundestag fand die zweite Abstimmung über „Taurus“-Lieferungen an die Ukraine statt, in der sich eine Mehrheit gegen eine solche Lieferung aussprach. Wie akut sehen Sie eine Gefahr, dass Deutschland in einen Krieg mit Russland geraten könnte.

DG: Aus der Sicht eines Historikers hat es immer Kriege gegeben. Mit unzähligen Toten, Zerstörung, Vertreibung und geopolitischen Veränderungen. Von 1945 bis 1995 hat die Aussage „Nie wieder Krieg“ 50 Jahre funktioniert, zumindest was Europa betrifft. Schon vorher gab es auf der Welt Kriege, die immer mit einer Lüge begonnen haben. 1964 die Tonkin-Lüge als Einstiegshilfe in den Vietnam-Krieg, 1981 Nicaragua, 1990 die Brutkasten-Lüge als Beginn des zweiten Golfkriegs gegen den Irak, Kuwait 1990, Libyen, Jemen, Syrien, Afghanistan. 1999 die Kosovo-Lüge und der Überfall auf Jugoslawien. Dies markierte den ersten europäischen Krieg nach 1945. Begonnen hatte dieser Konflikt bereits 1990 mit einem blutigen Bürgerkrieg.

2014 dann Ausbruch des Kriegs in der Ukraine, der auf den ersten Blick als ein Bürgerkrieg unter Ukrainern dargestellt wurde. Genauer betrachtet sind aber sowohl das US-Imperium als auch die Großmacht Russland verdeckt involviert. Bereits ein Jahr nach dem Regierungssturz in der Ukraine zugunsten der US-Interessen fand in Chicago eine Konferenz mit dem Namen „Global Strategies“ statt (The Chicago Council on Global Affairs), wo George Friedman eine brisante Rede hielt. [Friedman-Rede auf Deutsch / / Russland-Deutschland-Konflikt aus der Sicht der USA / Chicago Council on Global Affairs 2015]

(Anm. d. Red.: Friedman ist Gründer und Chef der nationalistischen Denkfabrik STRATFOR, die bereits 2011 durch WikiLeaks als „Schatten-CIA“ bekannt wurde. [Spiegel Carsten Volkery 27.02.2012: »STRATFOR-Hack – WikiLeaks blamiert die ‚Schatten-CIA’«] STRATFOR war beim US-Militär und der Regierung als geopolitische Beratungsfirma beliebt, da sie als private Organisation nicht der öffentlichen Kontrolle unterliegt wie etwa die CIA. [Geopolitical Futures: »George Friedman – Founder of Geopolitical Futures 2015«]

Einige brisante Aussagen auf dieser Konferenz:

Es wird Konflikte in Europa geben, es gab schon Konflikte in Jugoslawien und jetzt auch in der Ukraine. Was Europas Beziehungen zu den Vereinigten Staaten betrifft, wir haben keine Beziehungen mehr mit Europa. Wir haben Beziehungen mit Rumänien, wir haben Beziehungen mit Frankreich, aber es gibt kein Europa, mit dem man Beziehungen haben kann. Wir haben andere außenpolitische Interessen. Das Hauptinteresse der US-Außenpolitik während des letzten Jahrhunderts, im ersten und im zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland. Vereint sind sie die einzige Macht, die uns bedrohen kann. Unser Hauptinteresse war sicherzustellen, dass dieser Fall nicht eintritt. Wenn sie ein Ukrainer sind, werden sie Ausschau danach halten, wer ihnen als einziger helfen kann, und das sind die Vereinigten Staaten.

KLARTEXT: Sie schreiben in Ihrem [Buch „Imperium USA“] über den Vorwurf Russlands an den Westen, dass die Ausdehnung der NATO nach Osten ein Wortbruch und eine Provokation war. In den westlichen Medien wird dagegen behauptet, es hätte nie Zusagen gegeben. Sie belegen mit Quellenangaben aus dem National Security Archive in Washington, wo aus den Originalprotokollen des Gesprächs zwischen dem damaligen US-Außenminister James Baker und dem damaligen sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow am 09. Februar 1990 versprochen wurde, die NATO werde ihren Einflussbereich „nicht einen Zentimeter nach Osten ausdehnen“.
Wieso werden diese Fakten nicht viel mehr bekannt gemacht und in den Medien darauf hingewiesen, anstatt die aus Sicht Russlands durchaus berechtige Einstufung der Annäherung an die russischen Grenzen als Bedrohung seiner nationalen Sicherheit zu betrachten?

DG: Es handelt sich nicht um einen Vertrag, den beide Seiten unterschrieben haben, sondern wie richtig erwähnt, um ein Gesprächsprotokoll. Ich verweise in meinen Vorträgen immer darauf. Aber die Massenmedien wie die NZZ und so weiter haben kein Interesse daran zuzugeben, dass man die Russen über den Tisch gezogen hat. Man streitet es einfach ab, aber die Russen wissen sehr wohl, was ihnen versprochen wurde. "Not an inch!", hat James Baker gesagt. Baker und Gorbatschow haben sich in Moskau getroffen. Die Historiker sind sich einig, dass man bei diesem Treffen über die NATO gesprochen hat und dass man über Deutschland gesprochen hat. Dabei hat man sich darauf geeinigt, dass Gesamtdeutschland in die NATO geht, aber die Zusage war ganz klar: „Not an inch!“. Das wurde auch von Manfred Wörner, dem deutschen NATO-Generalsekretär, und dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher im Februar 1990 bestätigt.

KLARTEXT: Nicht nur das Thema Ukraine, sondern auch alle anderen Themenbereiche werden medial eher einseitig dargestellt. Gerade von öffentlich-rechtlichen Medien wird nicht mehr objektiv berichtet.
Russischsprachige Journalisten werden ausgegrenzt, Bücher über Russland nicht mehr aufgelegt. So geschehen beim Verlag C.H.Beck in München mit den sachkundigen Büchern der ehemaligen ARD-Moskau-Korrespondentin Frau Prof. Gabriele Krone-Schmalz. [FAZ Patrick Bahners 08.03.2022: »Starautorin Krone-Schmalz: Putins Ramsch«] Wer öffentlich eine neutrale Sicht vertritt, wird sofort als „Putin-Versteher“ oder „pro russisch“ gebrandmarkt.
Wie kommen wir aus dieser Situation, die, so der Vorwurf von Medien-Kritikern, als Propaganda bezeichnet werden kann, wieder heraus?

DG: Aus meiner Sicht befinden wir uns gerade in einer Medienrevolution. Noch nie in der Geschichte der Menschheit hat es so viele Möglichkeiten für Bürger gegeben, sich zu informieren. Das Aufkommen von YouTube im Jahre 2005 stellt eine regelrechte Revolution dar. Erstmals konnten Menschen auf dieser Plattform Videos weltweit zur Verfügung stellen, um so breite Bevölkerungsschichten zu informieren. Unabhängig von großen Konzernen, Medienanstalten und bestehenden Medien-Monopolen. Gerade auch von den aktuellen Konflikten werden Filme ins Internet gestellt und so live vor Ort berichtet, unabhängig und unzensiert.

Allerdings muss auch die Medienkompetenz jedes Einzelnen steigen. Die Vielzahl von Informationen muss in „Fake-News“, Propaganda, seriöse oder falsche Quellen eingeordnet werden. Ein gutes Hilfsmittel dafür ist z.B. der Mediennavigator, der sehr gut bei der Einschätzung vieler deutschsprachiger Medienquellen hilft. Und man sollte bei der Bewertung brisanter Themen zur eigenen Meinungsfindung möglichst mehrere Sichtweisen berücksichtigen. Wieder miteinander in den Diskurs gehen, um bestehende Feindbilder abzubauen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. Denn diese Feindbilder wandeln sich ständig; erst Muslime, dann Schwurbler, Querdenker, Ungeimpfte, Russen, Rechte, Nazis, AfD-Wähler, usw. Frei nach dem Motto von Volker Pispers: Ist der Feind bekannt, ist der Tag strukturiert!

KLARTEXT: Kommen wir nochmal auf den Ukraine-Krieg zurück; welche Zukunfts-Szenarien können Sie sich für den Ukrainekonflikt vorstellen?

DG: Man kann sich immer eine Eskalation vorstellen, bis hin zum 3. Weltkrieg. Ich bin ein großer Befürworter des Istanbuler Abkommens vom März 2022. Damals war die Abmachung, dass die Ukraine den Russen verspricht, nicht Mitglied der NATO zu werden, und dass man keine Stützpunkte und Raketen in der Ukraine zulässt. Dafür ziehen sich die Russen auf die Linie vom 24. Februar 2022 zurück. Das wäre der Deal gewesen, aber jetzt ist er nicht mehr auf dem Tisch. Eine denkbare, vernünftige Lösung wäre jetzt, dass die Gebiete, die jetzt unter russischer Kontrolle sind, also die Krim und der Donbass, unter russischer Kontrolle bleiben. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass die Russen diese Gebiete nochmal zurückgeben. Deutschland fährt die Waffenlieferungen auf null herunter und übernimmt - auch im eigenen Interesse - eine Vermittlerrolle. Das Ziel der Russen war und ist es, dass die Ukraine nicht in die NATO kommt, und dieses Ziel muss man ihnen geben. Das ist die rote Linie, die die Russen auf jeden Fall verteidigen werden.

Ich bin als Historiker geprägt vom Zweiten Weltkrieg und sage, das war der größte Fehler. Der Mensch ist immer zu Wahnsinn fähig. Zu großer Brutalität, zu großer Zerstörung und zu großer gedanklicher Verirrung. Und das ist nicht auf Deutschland beschränkt. Die Japaner haben wahnsinnige Dinge gemacht, der ganze britische Imperialismus, der französische Imperialismus in Indochina. Man denkt vielleicht, es ist eine gute Idee, Waffen an die Ukraine zu liefern oder eine Atombombe auf Hiroshima zu werfen. Aber es ist keine gute Idee, es ist einfach nur Wahnsinn!

KLARTEXT: Abschließende Frage zur Position der Schweiz. Fühlen Sie sich als Schweizer sicher, weil Ihr Land weder Mitglied in einem Verteidigungsbündnis ist und sich noch immer als souverän bezeichnet?

DG: Die Schweiz hat ihre wirtschaftliche Neutralität de facto aufgegeben. Sie führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland. Bereits vier Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine, die definitiv völkerrechtswidrig war, hat die Schweiz beschlossen, die Sanktionspakete der EU vom 23. und 25. Februar 2022 zu übernehmen. Die Schweiz hat auch russische Vermögenswerte blockiert. Ich halte das für falsch. Die Schweiz muss wieder zur Neutralität zurückfinden.

KLARTEXT: Herr Dr. Ganser, vielen Dank für das Gespräch.

Anm. d. Red.: [weitere Quellen]