Die Europäische Union will Militärmacht werden

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Ein Kommentar von Hermann Ploppa.

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Mit großem Elan werden ehrgeizige Rüstungsprojekte angepackt. Doch wenn man genau hinschaut, sind die anvisierten Vorhaben nichts weiter als heranwachsende Investitionsruinen. But:don’t worry: der Steuerzahler wird’s schon bezahlen.

Eigentlich nehmen wir die Europäische Union als eine zivile Organisation wahr, die sich um die Wirtschaft und die Infrastruktur der angeschlossenen 27 EU-Nationen kümmert. Für Kriegsführung ist doch eher die NATO zuständig? Der Eindruck täuscht. Schon lange sind nämlich militärische Einsatzgruppen unter dem Kommando der EU überall auf der Welt aktiv. Das taucht bisweilen am Rande in den Nachrichten auf. Richtig ist natürlich, dass die so genannte Verteidigung, also der Betrieb von Streitkräften, immer noch Sache der Nationalstaaten ist.

Doch schrittweise will auch die Europäische Kommission immer mehr militärische Kompetenzen an sich reißen. So tönte im März dieses Jahres der stellvertretende EU-Kommissionspräsident und de facto-Außenminister Josep Borrell: „Russlands brutaler Angriff auf die Ukraine hat den Krieg zurück nach Europa gebracht. Nach Jahrzehnten der Unterfinanzierung müssen wir mehr in die Verteidigung investieren – aber wir müssen es besser und gemeinsam tun.<1> Da wollte der EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen, Thiery Breton, gleich noch einen drauf setzen. Der Franzose verlangte, nach deutschem Vorbild einen EU-geführten Kriegskredit von 100 Milliarden Euro aufzulegen. Eine moderne Variante der Kriegsanleihen, jetzt „Eurobonds“ genannt, soll das Geld Steuerzahler-schonend zusammenkratzen.

Ob Borrell und Breton der neuen EU-Kommission noch angehören werden, wissen wir nicht. Aber der Trend zur Militarisierung der Europäischen Union hält seit Jahrzehnten an und wird mit Sicherheit in den nächsten Jahren noch mehr Fahrt aufnehmen. Immerhin ist die Europäische Union eine supranationale Organisation. Und die EU hat im Laufe der Jahre den Nationalstaaten immer mehr Kompetenzen abgenommen, so dass in immer mehr Bereichen jetzt schon gilt: EU-Recht bricht das Recht der Nationen. Und das bezieht sich nicht nur auf die Regulierung der Krümmung von Bananen. Allerdings hat die EU noch keine eigenen militärischen Verbände. Dafür stellt die EU so genannte Battle Groups aus dem Personal der Streitkräfte aller 27 EU-Staaten zusammen.

Immer mehr staatliche Kompetenzen für die Europäische Union

Das ist ein Ergebnis des Lissabonner Vertrags aus dem Jahre 2007. Nachdem es nicht gelungen war, die Europäische Union durch Volksentscheide in den befragten Ländern zu legitimieren, machte man den Vertrag von Lissabon zu einer de facto-Verfassung. Abgesegnet wurde dieser Verfassungsersatz durch die nationalen Parlamente. Damit war die Rechtfertigung geliefert, den Nationalstaaten ihre Souveränitätsrechte Schritt für Schritt abzuknöpfen. In diesem Zusammenhang wurden die Battle Groups gebildet, die seitdem fern der Heimat in Afrika und Asien tätig sind. Kleine ad hoc zusammengestellte multinationale Einsatzgruppen, meist nur aus einigen wenigen hundert Mann bestehend. Man unterscheidet zwischen so genannten zivilen Einsätzen und militärischen Einsätzen. Die zivilen Einsätze sind so zivil denn aber auch wieder nicht. Der EULEX genannte Einsatz im Kosovo soll den Kosovaren Rechtsstaatlichkeit beibringen. Diese EU-Behörde im Kosovo kann sich über die nationale Souveränität des Gastgeberlandes locker hinweg setzen und ist selber nicht ganz frei von Korruptionsvorwürfen. Schon seit dem Maidan-Putsch in der Ukraine soll die EUAM die Polizei vor Ort auf Vordermann bringen. Die EUPOL Cops sollen den Palästinensern beibringen, wie polizeiliche Aufgaben wahrgenommen werden.

Noch deutlicher als bei diesen so genannten „zivilen“ EU-Einsätzen wird bei den militärischen Abenteuern der Europäer, dass sie nur allzu oft als Subunternehmer und Lückenbüßer der NATO oder der US-amerikanischen Streitkräfte tätig werden. In Bosnien und Herzegowina haben die EUFOR-Verbände im Jahre 2004 den SFOR-Einsatz der NATO abgelöst. Seit einigen Monaten führt das EU-Navfor/Aspides-Kommando im Roten Meer und im Golf von Aden Aufklärungsaufgaben für das US-Kommando Operation Prosperity Guardian („Wächter des Wohlstands“) aus. Die Huthi-Verbände im Jemen hatten als Reaktion auf den Militäreinsatz Israels im Gaza-Streifen israelische Transportschiffe beschossen. Für die US-Interessen führen EU-Verbände sogar militärische Einsätze in Mosambik und in der Zentralafrikanischen Republik durch. Denn in jenen Regionen möchten Angloamerikanische Konsortien Infrastrukturen unter der Leitung von Blackrock aufbauen. Als Gegenmodell zur chinesischen Seidenstraße. Im östlichen Mittelmeer wiederum übernehmen Marine-Einheiten aus EU-Ländern die Aufgabe, Klima- und Kriegsflüchtlinge aus Afrika aufzuhalten. Sie übernehmen dabei Aufgaben der Küstenwache des zerstörten Staates Libyen. Diese Lücke war entstanden, nachdem Einheiten der westlichen Wertegemeinschaft den libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi gestürzt und danach das Land in ein Chaos gerissen hatten.

Feuchte Weltmachtträume der EU

Das macht den Eindruck von fragmentierten militärischen Einsätzen ohne größere weltpolitische Ambitionen. Doch dieser Eindruck täuscht. Es gibt eine Denkfabrik der Europäischen Union mit Namen European Institute for Security Studies <2>. Das EUISS ist das strategische Gehirn der EU. Dem Institut präsidiert qua Amt der Hohe Vertreter der EU Außen- und Sicherheitspolitik, also im Moment noch Josep Borrell. Doch das Sagen hat eine so genannte Group of Personalities, diskrete Damen und Herren aus der Rüstungsindustrie. Sie geben „Empfehlungen“, die die Politik pflichtschuldigst auszuführen hat. Das EUISS gibt eine Reihe von regelmäßigen Publikationen heraus. In diesen Publikationen findet sich auch eine Weltkarte, die darlegt, wie sich die Europäische Union ihre geopolitische Zukunft auf Augenhöhe mit den USA und China vorstellt <3>. Wir sehen auf dieser Karte ein europäisches Kernland, dominiert von der EU. Darum herum gruppiert sich das so genannte „Grand Area“. Eine Peripherie, die der EU durch Rohstoffe, Infrastruktur und Arbeitskräfte zuarbeiten soll. Dieses Umland erstreckt sich vom nördlichen Afrika über den Indischen Ozean bis nach Indonesien. Die Östliche Peripherie erstreckt sich über die russischen Regionen westlich des Uralgebirges und vereinnahmt auch noch die Turk-Staaten, den Iran sowie die arabischen Staaten.

Ein Aufsatz vermittelt Einblicke in das geistig-mentale Innenleben von Eurokraten. Der britische Diplomat Robert Cooper war in den ersten 2000er Jahren ein wichtiger Berater des damaligen EU-Außenkommissars Javier Solana. Zudem war er ein einflussreicher Vordenker für den ehemaligen britischen Premierminister Tony Blair. Also keine Randfigur, sondern mitten im Zentrum der Macht. Cooper veröffentlichte im Jahre 2002 einen Aufsatz, in dem er die Doktrin des „Neuen liberalen Imperialismus“ verkündete. Der Aufsatz fand breite Beachtung und wurde unter anderem in der britischen Zeitung „The Guardian“ abgedruckt. In dem Artikel findet sich folgende bemerkenswerte Passage:

Die Herausforderung für die postmoderne Welt ist, sich an die Idee von Doppelstandards zu gewöhnen. Unter unseres gleichen operieren wir auf der Grundlage von Gesetzen und offener Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich. Aber sobald wir es mit altmodischeren Staaten außerhalb des postmodernen Europa zu tun haben, müssen wir auf die raueren Methoden eines früheren Zeitalters zurückgreifen. Das bedeutet: Gewalt, vorbeugende Angriffe, Täuschung – was immer notwendig ist im Umgang mit jenen Leuten, die immer noch in der Welt des Neunzehnten Jahrhunderts leben, wo jeder Staat für sich allein existiert. Unter Unseresgleichen halten wir uns an Gesetze. Aber wenn wir im Dschungel operieren, dann müssen auch wir die Gesetze des Dschungels benutzen. In der überlangen Friedensperiode in Europa hat es die Versuchung gegeben, unsere Verteidigung zu vernachlässigen, sowohl physisch wie psychologisch. Darin besteht eine der großen Gefahren des postmodernen Staates.<4>

Das ist im Prinzip immer noch dieselbe Denkweise, die auch den spanischen Konquistador und Freibeuter Pizzarro angetrieben hat. Hier artikuliert sich ungeniert der Rassismus des britischen Herrenmenschen. Die Regeln bestimmen wir. Gegen die „weniger entwickelten Völker“ ist jedes Mittel erlaubt.

Nun wollen wir fairerweise feststellen: diese Aussagen sind nun fast ein Vierteljahrhundert alt, und Großbritannien gehört nicht mehr der Europäischen Union an. Zu jener Zeit konnte noch niemand den rasanten Aufstieg der Schwellenländer voraussehen. Und niemand konnte ahnen, dass diese Schwellenländer ihre Kräfte in dem Bündnis BRICS derart geschickt zu einer Synergie zusammen zu führen wissen. Doch Coopers politische Erben haben aus diesen Lektionen rein gar nichts gelernt. Anstatt der neuen Synergie gegenüber aufgeschlossen zu sein, stellen sich die Eurokraten bedingungslos als Subunternehmer unter die Schuhe des sterbenden Giganten USA. Und sie positionieren sich ungeniert gegen BRICS. Und damit übernehmen die Lenker der Europäischen Union auch die US-amerikanische Strategie der Militarisierung als alleiniger Überlebensoption.

Militarismus statt Diplomatie.

Deshalb sollen jetzt größere Geldmittel in die Hand genommen werden. Deshalb sollen jetzt die nationalen Rüstungsindustrien der EU-Staaten zusammengeführt und harmonisiert werden. Das bisherige Blubbern im eigenen nationalen Saft soll einer großen Zusammenführung aller Kräfte weichen. Der stumpfsinnige Kampf der verschiedenen nationalen Standards und Normen gegeneinander soll beendet werden. Zivile Forschung und militärische Forschung sollen „synergetisch“ ineinander greifen – zum Wohle einer europäischen Hochrüstung gegen die Feinde der Vereinigten Staaten von Amerika. In absehbarer Zeit sollen auf diese Weise mindestens fünfundsechzig Prozent aller Rüstungskomponenten „Made in the EU“ sein. Die Brüsseler Einkaufsgemeinschaft aller EU-Staaten ordert zum Mengenrabatt beim Waffen-Discounter. All diese Planungen finden ihren Niederschlag in einer Fülle immer neuer bedeutend klingender Programme mit immer weiter in die Tiefe wuchernden Arbeitsgruppen. Und Unter-Arbeitsgruppen mit dazu gehörigen Unter-Unter-Arbeitsgruppen mit so wohl klingenden Akronymen wie „EDIRPA“, „EDIP“, „EDIS“ oder „ASAP“ <5>.

In all diesen eurokratischen Wucherungen steckt viel Steuergeld. Das geht am Anfang in die Millionen, hat aber schon die Milliardengrenze geknackt. Es sollen perspektivisch bis 2025 214 Milliarden Euro verarbeitet werden, um die Hochrüstung der EU zu unterstützen. Nach 2025 soll das Ganze auf 284 Milliarden Euro angehoben werden. Ob der gewünschte Effekt, nämlich die Erzeugung einer eigenständigen europäischen Rüstungsindustrie, dann eher erreicht wird, darf bezweifelt werden. Es gibt einfach zu viele Personen im Militär und in der Rüstungsindustrie, die die Bemühungen um europäisch hochwertige Rüstungsproduktion vereiteln. Die berühmten Taurus-Leaks haben offengelegt, dass deutsche Spitzenoffiziere der Bundesluftwaffe einen Ankauf des amerikanischen Tarnkappenbombers F-35 massiv befürwortet haben <6>. Damit wurde dem europäischen Konkurrenzprodukt mit dem Namen: Future Combat Air System (kurz: FCAS) der Garaus bereitet. Zudem bezahlt Deutschland für jeden F-35 satte 286 Millionen Dollar, während die US-Luftwaffe das identische Produkt für „nur“ 75 Millionen Dollar einkaufen darf. Der deutsche Steuerzahler kommt somit für Forschung und Entwicklung des F-35 auf und darf zusätzlich noch das europäische FCAS-System bezahlen, das sich wohl bald als technologischer Blinddarm erweisen wird – nein, erweisen muss.

Bis jetzt haben die Europäer immer noch mehr US-Rüstung kaufen müssen. In der Spanne der Jahre 2014 bis 2018 betrug der Anteil US-amerikanischer Rüstungsgüter am europäischen Einkaufsvolumen nur 35 Prozent. In den folgenden fünf Jahren 2019 bis 2023 stieg der amerikanische Anteil an den europäischen Rüstungsimporten glatt um 20 Prozent auf insgesamt 55 Prozent! Warum sollte dieser Trend irgendwann einmal umkehrbar sein?

Die kolossalen Planungen der EU-Regierung werden wohl kaum die gewünschten Ergebnisse bringen. Die mangelnde Synchronisation der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten zu einem wohlklingenden Orchester ist hier nicht das Problem. Denn die kleineren Staaten sind sowieso gut zugerichtet auf die Bedürfnisse der großen Staaten, keine Frage. Aber die beiden großen Player, Deutschland und Frankreich, werden versuchen, jeweils für die eigenen Interessen zu werben und zu drücken. Und die US-amerikanischen Händler des Todes werden ihren gebührenden Einfluss auf die Entscheidungsträger in Brüssel, Berlin und Paris geltend zu machen wissen.

Es bleiben kolossale Investitiosruinen

Es ist keine Kunst, vorauszusehen wie die superschlaue Hochrüstung der Europäer ausgehen wird. Auf die Dauer werden nämlich kolossale Investitionsruinen übrig bleiben. Wie das jetzt schon beim Tarnkappenbomber- und Drohnenprogramm FCAS abzusehen ist.

Schade um unser mühsam erknechtetes Steuergeld. Schade auch um den Verlust unseres Ansehens in der Welt. Anstatt, dass Europa wie in früheren Zeiten auftritt als Vermittler zwischen den Machtblöcken, als ruhiger Mediator, wird Europa nun als schießwütiger Hilfssheriff der USA wahrgenommen. Und verlacht. Don Quichote und Sancho Pansa sozusagen.

Gastautor: Hermann Ploppa, Frankfurt/Main