VERGESST DIE „VIERTE GEWALT“

von Redaktion — über |

Wann macht der Journalismus endlich wieder das, was er soll, werde ich nach jedem Vortrag gefragt. Wann haben wir endlich wieder eine vierte Gewalt? Ich muss dann den Kopf schütteln. Vierte Gewalt: Das hatten wir noch nicht und werden wir hoffentlich auch nie haben, zumindest nicht so, wie sich das die meisten vorstellen. Wir haben uns da einen Bären aufbinden lassen.

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In meinen Vorträgen spreche ich über die engen Drähte, die es zwischen Regierungen, Behörden und Redaktionen gibt. Ich spreche natürlich auch über Geld, über die Berge zum Beispiel, die die Familien angehäuft haben, denen die Medien gehören. Mohn sieben Milliarden Euro, Bauer vier, Burda und Springer zwischen drei und vier, Holtzbrinck anderthalb und selbst Schaub, Ströer, Beck oder die Funke-Besitzer im hohen dreistelligen Millionenbereich. Die Ultrareichen als vierte Gewalt. Darauf muss man erstmal kommen.

Das Copyright hat der Verband der Zeitungsverleger. Genauer: Martin Löffler. Dieser Anwalt hat zwei Dinge geschafft. Er hat den Westdeutschen gesagt, dass sie eine vierte Gewalt brauchen. Und er hat klargemacht, dass das die Presse ist. Die Menschen haben beides geglaubt. Sie glauben das noch immer. Sonst würden sie bei meinen Vorträgen nicht danach fragen.

Das heißt auch: Die Idee ist gut. Sie stammt aus England, ist fast 200 Jahre alt und hieß damals vierter Stand. Es gab dort schon ein Parlament, aber entschieden haben drei Stände: das Königshaus, der Adel, die gut betuchten Bürger. Der vierte Stand brauchte Bühnen – auf der Straße, in Pubs, auf Plakaten, zur Not auch in der Presse. Die wenigen da oben sollten hören, was die vielen umtreibt, die im Parlament keine Stimme hatten.

Martin Löffler hat daraus ein Werkzeug der Eliten gemacht. Die vierte Gewalt. Löfflers erster Trick: In der Presse sprechen doch die, auf die es ankommt. Politiker, Unternehmer, Experten. Meinungsbildung findet folglich genau dort statt. Und Trick zwei: Die drei klassischen Gewalten sind abhängig von den Parteien, die gerade die Mehrheit haben. Ich vermute: Die Leute haben auch damals genickt. Genau hier hat Martin Löffler angesetzt: Es braucht jemanden, der die Macht kritisiert und kontrolliert – uns, die Zeitungen, die „vierte Gewalt“.

Wenn ich Verleger wäre, würde ich diese Geschichte lieben. Alle anderen stecken unter einer Decke – und nur ich kann diese Decke lüften. Welche Regierung kommt da noch auf die Idee, mich mit irgendeinem Gesetz zu ärgern? Welcher Richter wird meine Leute verurteilen? Über dieser vierten Gewalt ist nur der Himmel. Es gibt niemanden, der die Kontrolleure kontrollieren kann. Vielen Journalisten sieht man das an. Die Idee, dass sie ein Bollwerk sind gegen Parteienkorruption und gegen die Macht des Geldes, hat sich in ihre Körper eingeschrieben. Der Kopf weit oben, Stimme oder Ton schneidend scharf. Ich bestimme, was gut und richtig ist und wer mitreden darf. Ich sage, zu welchen Demos man gehen sollte und zu welchen besser nicht. Wir Journalisten, wir erziehen das Volk, und wir dürfen dafür fast alles – Menschen an den Pranger stellen zum Beispiel.

Mit gutem Journalismus hat das nichts zu tun. Die Verfassung kennt nur drei Gewalten. Und sie kennt uns, den Souverän, der wissen muss, was die Legislative treibt, die Exekutive, die Judikative. Demokratie braucht Öffentlichkeit. Alle Themen, die uns umtreiben, und alle Sichtweisen, die es darauf gibt – auch dann, wenn sie unbequem sind. Demokratie braucht keine Redaktionen, die vorsortieren und uns beim Denken helfen. Demokratie braucht keinen Schiedsrichter. Demokratie braucht einen Journalismus, der Öffentlichkeit herstellt. Öffentlichkeit sind wir. Und was machen wir mit der vierten Gewalt? Am besten, wir vergessen diese Idee. Sie hat Journalisten und Politikern erlaubt, unter sich zu bleiben, und uns eine falsche Sicherheit gegeben, frei nach dem Motto: Nicht so schlimm, wenn etwas schiefläuft.

Wir haben ja eine vierte Gewalt. Wenn es einen vierten Stand geben soll, dann müssen wir uns schon selbst bewegen.

Gastautor: Prof. Michael Meyen