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Einleitung
Nur eines setzt der folgende Text im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg grundsätzlich voraus: das Wissen um die oder wenigstens die Ahnung von der nicht zu übersehende/n Gefahr einer – allmählich oder plötzlich – neue Ebenen erreichenden Eskalation, die immer mehr Länder aktiv involvieren oder zum Einsatz immer zerstörerischerer Waffengattungen führen könnte. Als zudem halbwegs nüchterner Zeitgenosse, ausgestattet mit einem gewissen Hang zu Konfliktlösungen oder, bescheidener, zu Schadensbegrenzungen, ist man in dieser Zeit der Gegenaufklärung daher unausgesetzt mit folgenden Fragestellungen konfrontiert:
Wieso arbeiten – und arbeiteten – die in unserem Land politisch Verantwortlichen nicht unter Hochdruck:
a) an einem Konzept vorläufiger gegenseitiger Bedingungen für einen Waffenstillstand in der Ukraine, der zumindest potenziell auch Aussicht auf Erfolg hat, anstatt sich lediglich an den Maximalforderungen eines Selenskyj oder Biden auszurichten – und zwar bevor sich die Kampfhandlungen auf andere Territorien auszuweiten, die Situation dadurch zu verkomplizieren und um ein weiteres Stück irreversibler zu machen drohen;
b) – darauf fußend – an Richtlinien für eine adäquate Sondierung zur Aufnahme ernsthafter Verhandlungen über tragfähige Friedensbedingungen (wobei diese Richtlinien unbedingt die Option umfassen sollten, bei begründetem Verdacht auf fanatisches Festhalten an nationalistischen und somit gegen ethnische Minderheiten gerichteten Positionen insbesondere bei den eigenen Bündnispartnern auch zu diesen wieder mehr Distanz herstellen zu können)?
Dies wäre unter dem Primat der Eskalationsverhinderung der einzige Weg, auf dem möglichst rasch und verlässlich eine Beendigung oder wenigstens ein Einfrieren des Krieges erreicht werden könnte, um endlich wieder auf die Verhandlungsebene zurückzugelangen; diese dürfte sich zwar äußerst komplex und langwierig gestalten, würde aber nicht länger massenhaft zu Toten, Verletzten, Vertriebenen und Traumatisierten führen.
Die nahezu vollständig eingetretene Weigerung der Ampelregierung, genau diese Fragen auch nur anzugehen geschweige denn ernsthaft zu beantworten, ist Ausdruck und Maß für die bereits seit etlichen Jahren zunehmend herrschende, gesamtgesellschaftliche Paradoxie, welche die ohnehin schon existierende kognitive Dissonanz im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung weiter befördert. Um dieser Paradoxie begegnen zu können, deren tiefere Ursachen immer öfter bloß neue Formen und Ausmaße einer ungestümen Destruktivität hervorbringen, ist es zunächst wichtig, Folgendes zu verstehen – oder wenigstens nicht von vorn herein auszuschließen: So gut wie alle Gründe, die bisher – mehr oder weniger offen – gegen eine Beschäftigung mit diesen Fragen ins Feld geführt worden sind, beruhen auf einer zuweilen bis ins Psychopathische verzerrten Realitäts-, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie einer zutiefst pervertierten, verlogenen und daher inhumanen 'Ethik' unserer politischen 'Eliten' und ihrer medialen Verlautbarungsorgane.
Jacques Baud, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier der Schweizer Armee, strategischer Analyst und Buchautor mit den Schwerpunkten Geheimdienst und Terrorismus, der in seiner Laufbahn einige internationale Positionen bekleidete, „darunter auch bei der NATO, wo er den Fluss von Kleinwaffen im Donbass überwachte und an einem NATO-Programm zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte bei der Wiederherstellung ihrer Kapazitäten und der Verbesserung der Personalverwaltung beteiligt war“, drückt dies moderater aus, was jedoch am Phänomen der Realitätsverweigerung via Projektion nichts ändert: „Im Jahr 2014, während der Maidan-Revolution in Kiew, war ich bei der NATO in Brüssel. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen die Situation nicht so einschätzen, wie sie ist, sondern wie sie sie sich wünschen. … In der Tat stellte sich für mich heraus, dass niemand in der NATO das geringste Interesse an der Ukraine hat. Wir neigen dazu, den Feind so darzustellen, wie wir ihn uns wünschen, und nicht so, wie er tatsächlich ist. Das ist das ultimative Rezept zum Scheitern.“ [Jacques Baud: Interview zum Militärkonflikt in der Ukraine | 01.05.22] | Mehr dazu vor allem in Teil IV.
Um diesen Komplex zumindest ansatzweise zu entwirren, möchte ich in einer – zugegeben notwendigerweise unvollständigen – Art von Bestandsaufnahme auf vier recht klar unterscheidbaren Ebenen Agenden, Ursachen, Wirkungen, Beschlüsse, An- und Aufkündigungen, Tatsachen, Erklärungen, Lügen, Verleumdungen, Massenmanipulation, Partikularinteressen, Anmaßungen, Vorurteile, totalitäres Gedankengut, Ereignisse, offene und verdeckte Aktionen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Feindbilder und Ängste möglichst systematisch auflisten und miteinander in Beziehung setzen; diese Methodik soll nicht nur immer klarer werdende, da jene Ebenen auch verknüpfende Zusammenhänge herausarbeiten; sie soll bestenfalls ferner Überlegungen zu dem erwähnten Paradoxon anregen: Warum wurden die eingangs aufgeführten Fragen, und zwar für jedermann hör- und nachvollziehbar, bisher nie wirklich, d.h. nie mit der eigentlich angemessenen medialen und politischen Durchschlagskraft gestellt – und allein schon deshalb auch nie tatsächlich beantwortet?
I. Sanktionsebene [funktional-operative Aspekte] oder:
Solidarisches Frieren und Hungern für die gerechte Sache: Die offen angestrebte Ruinierung Russlands
Die Ziele der Sanktionen wurden weitgehend verfehlt, treiben die auf Welthandelsbeziehungen angewiesenen Länder aber zunehmend in eine globale Spaltung; ferner erlebten und erleben wir immer noch auf nationaler Ebene u.a. eine Explosion des Gas- und des von ihm stark abhängigen Strompreises durch das sog. Merit-Order-Prinzip: „Der teuerste Anbieter, der gerade noch berücksichtigt wird, bestimmt den Börsenpreis, zu dem alle Geschäfte abgewickelt werden (Markträumungspreis).“ [Spektrum.de | 29.08.22]. Die direkten Auswirkungen dieser Politik in Deutschland sind:
- schwere Schädigung der heimischen Wirtschaft, vor allem vieler mittelständischer und kleinerer Betriebe
- noch stärkere Verarmung bereits zuvor prekär lebender Bevölkerungsteile
- zusätzliche Belastung der Öffentlichen Hand auf kommunaler, Landes- und Bundesebene
- statt Bezug von billigem russischem Erdgas nun mindestens 7-mal teureres und dazu extrem umweltschädliches US-Fracking-Gas [zudem in völlig unzureichender Menge]
- Gas- und Strommarkt werden analog ihrer zunehmend unsicheren und irratonalen Preisbildung in noch größerem Maße zum Spekulationsobjekt an den Börsen
Die durch etliche Krisen und die Corona-Maßnahmen schon angeschlagene Wirtschaft [durch staatlich verordnete, exorbitante Neuverschuldung, fehlenden oder stark eingeschränkten Kundenverkehr, drastische Zunahme von Insolvenzen bzw. deutlichen Umsatzeinbrüchen, geborstene Lieferketten, Rohstoff-verknappungen etc.] sowie die gesundheitlich, finanziell, politisch und psychisch bereits stark beanspruchte Bevölkerung werden durch die u.a. von der Energiepreis- und Lebenshaltungskostenentwicklung sowie weiterer Neuverschuldung erneut angefachte Inflation gegenwärtig noch tiefer und nachhaltiger geschwächt; dies zeigt sich in weiteren Negativ-Entwicklungen:
- genereller Konsum- und Investitionsrückgang [z.B. stagnierender Wohnungsbau]
- Forderungen nach tariflichen Nullrunden durch Politik und Arbeitgeberverbände
- spürbare, z.T. deutliche Senkung des Lebensstandards zunehmend größerer Bevölkerungsteile
- wachsende Zukunfts- und Abstiegsängste, gesundheitliche wie psychische Extrembelastungen vieler Starkbetroffener
- [halbherzige] Symptombekämpfung wie 'Doppel-Wumms' statt verantwortungsvoller politischer Prinzipien
- jahrelange, schleichende 'Normalisierung' des gesamtgesellschaftlichen Mehrfach-Krisen-Modus als Folge angeblich kaum absehbarer 'höherer Mächte' oder 'autokratischer' Staaten durch diverse Narrative von Politik und Qualitätsmedien
Aus US-imperialistischer Sicht geschieht momentan hingegen Folgendes: Zwei US-Konkurrenten – Russland und die EU, hier allen voran Deutschland – schwächen sich gegenseitig, während gerade die US-amerikanische Energie- und Finanz-Industrie – neben zahlreichen multinationalen Konzernen – trefflich profitiert. Die deutsche Politik wird zunehmend zum willfährigen, 'selbstaufopfernden' Handlanger des US-Hochfinanz-, -digital-finanziellen und -militärisch-industriellen Komplexes, die arbeitende und in noch stärkerem Maße die bereits arbeits- oder gar mittellose deutsche Bevölkerung zu dessen Prellbock. Der deutsche Mittelstand, ein Dorn im Auge jener Interessen, die weltweit die neoliberale Agenda u.a. mit der Durchsetzung immer neuer 'Freihandelsabkommen' vorantreiben, gerät mit der allmählichen Vernichtung des 'freien' Marktes – auch durch zunehmend marktfremde Einflüsse – immer stärker unter existenziellen Druck, während etliche deutsche Riesenkonzerne freilich ebenfalls stattliche Gewinne einfahren. Könnte es also sein, dass es bei der Solidarität mit dem ukrainischen Volk [dem ganzen?] möglicherweise um ganz anders gelagerte Interessen geht? Begeben wir uns, um hier ein wenig mehr Klarheit zu erlangen, ein wenig tiefer in den 'Kaninchenbau'. Denn um einen solchen handelt es sich hierbei.
ENDE EINLEITUNG UND TEIL I. SANKTIONSEBENE
Hier geht es weiter zu TEIL II
Gastautor: Jan Veil, Frankfurt/Main | 09.01.23